Klassisches Tantra

Tantra ist wohl einer der am meisten missverstandenen und missbrauchten Begriffe der heutigen Spiritualität. Im klassischen nondualen Tantra geht es, wie auch in anderen Yoga-Traditionen, darum, die Erfahrung der Einheit mit allem Sein zu erreichen und zu stabilisieren. Im Gegensatz zu früheren Yoga-Traditionen sieht das Tantra den Köper, die Sinne und die materielle Welt aber nicht als Illusion und Hindernis auf dem Weg zur Befreiung (Moksha), sondern als als immanente Manifestation (Shakti) des einen Bewusstseins (Shiva) und als wichtigstes Werkzeug auf dem spirituellen Weg. Deswegen spielen die Sinne, der Körper und insbesondere der Energiekörper dort eine zentrale Rolle. Konzepte und Praktiken der Chakras, Nadis und der Kundalini stammen ursprünglich aus dem Tantra. Da alles Sein perfekt ist, löste das Tantra auch viele der vorherrschenden rein-unrein Dualitäten auf, erlaubte erstmals Angehörigen aller Kasten, Geschlechter, Völker und Religionen in mystische Yoga-Praktiken eingeweiht zu werden und erfordert dafür auch nicht die asketische Entsagung der Welt (Sanyas). Deshalb kann, neben allen Aspekten des Seins, auch Sexualität eine Rolle als tantrische Praxis spielen und dies auf ganz verschiedene Arten, die sich aber sehr vom Neo-Tantra-Sex unterscheiden.

Das klassische Tantra wurde ca. 500. n. Chr. erstmals verschriftlicht, hat aber sicherlich schon lange zuvor als orale Überlieferung existiert. Rund um 1000 n. Chr. erreichte das Tantra seine Blütezeit. Ausgehend von den Shaiva Tantra Traditionen Kashmirs verbreitete es sich in weiten Teilen Asiens. In den folgenden Jahrhunderten hat der Einfall der Moghul in Nordindien aber viele der Universitäten, Tempel und Bibliotheken der tantrischen Kultur dort zerstört. Das Tantra existiert vor allem in den Traditionen des tantrischen Buddhismus (Vajrayana) in Tibet sowie in der asketisch-tantrischen Hatha-Yoga Bewegung weiter. Im Westen wurde der Begriff Tantra im 20. Jahrhundert durch okkulte Lehrer wie Aleister Crowley, Pierre Bernard und Osho mit einer neuen Bedeutung aufgeladen und in der Folge entstanden neo-tantrische Kurse in tantrischer Massage und Sexualität, die sicher einen großen Wert haben können, aber meist kaum etwas mit klassischem Tantra zu tun haben.

Für mich ist das nonduale Shaiva Tantra schon seit meiner frühen Jugend meine spirituelle Heimat und philosophisch wie auch praktisch das für mich sinnvollste System, das ich kenne. Mein Studium des Tantra habe ich in Person in Indien bei meiner Yogalehrerausbildung an der Kashmir Shaivism School of Yoga, in meiner Yogatherapieausbildung im Yoga Vidya Gurukul in der sehr tantrisch geprägten Satyananda-Tradition und durch meine Praxis und Initiation mit Guruji Rajkumar Baswar vertieft. Online habe ich vor allem durch die Lehren von Dharmabodhi und Hareesh Wallis mein Verständnis dieser tiefen und komplexen Tradition erweitert. Ich selbst unterrichte 2024 ein Seminar über klassisches Tantra, lasse tantrische Praktiken und Prinzipien aber in viele meiner Veranstaltungen und Einzelsitzungen einfließen.